Hundert Tage – hundert Nächte. Ein komplett anderes Leben. Irgendwie. Irgendwie aber auch nicht.

Gretel ist nach der Corona-Pause wieder im Alltag angekommen. Sie darf wie gebucht in den Kindergarten, im Sportverein ist sie nicht. Freunde trifft sie schon immer eher draußen. Alles beim alten.

Hänsel hat es nicht so gut. Er darf nur jede zweite Woche zum Präsenzunterricht in die Schule. Auch hat er während dieses Taktes lediglich drei Schulstunden Unterricht. Er ist zehn Jahre alt, steht am zweiten wichtigen Punkt seiner Schullaufbahn – und ist auf sich alleine gestellt.
Zum Training darf er inzwischen wieder. Er spielt nun in seiner Lieblingsposition. Theoretisch. Denn spielen dürfen sie noch nicht wieder. Nur trainieren.

Die Mutter hat, im Gegensatz zu ihrem Sohn, wieder volle Anwesenheitspflicht im Büro. Auch in den Wochen, in denen ihr Viertklasskind sich selbstorganisiert zu Hause um die Hausaufgaben kümmern muss. Dass ihm das Angst macht und er seine Mutter brauchen könnte, egal. Dann muss er eben in die Notbetreuung gehen.

Die Belastung ist allen beiden, vor allem aber der Mutter, inzwischen deutlich anzumerken. Ihr Körper zeigt ihr täglich, dass sie sich all die Wochen über zu viel zugemutet hat. Ihr Pflichtbewusstsein treibt sie dennoch weiter an. Zum Leidwesen ihrer Kinder, denn die beiden spüren genau, was los ist.

Gretel kommt nachts zu ihrer Mutter ins Bett gekuschelt. Sie schmiegt sich eng an sie. Die Mutter hofft, nun da der Wecker klingelt, sehr, dass der gestern plötzlich aufgetretende Ausschlag an den Armen des Mädchens wieder verschwunden ist. Anderenfalls wird der Kindergarten verlangen, dass es medizinisch abgeklärt wird.

Gretel, und auch die Mutter, möchte den Nachmittag jedoch nicht in der Arztpraxis verbringen. Viel lieber möchten die beiden die freien Stunden auf dem Spielplatz genießen.

Gedankenverloren schaltet die Mutter die nächste Snooze-Erinnerung aus. Die wie vielte war es? Hm.

Sie hält ihr kleines Mädchen im Arm. Wann ist sie so groß geworden? Die Mutter möchte die Zeit anhalten. Sie möchte nicht aufstehen. Sie möchte den kleinen Körper nicht aus ihren Armen schieben. Sie möchte weiter kuscheln. Sie möchte schlafen.

Stattdessen steht sie auf. Es gibt eine ausgiebige Dusche, anschließend einen Kaffee. Sie weckt ihre Tochter, die sich offenbar ebenso über die Snooze-Funktion ihres menschlichen Weckers freut, wie die Mutter über die ihres elektronischen eine Stunde zuvor.

Irgendwann sitzen die beiden müde am Esstisch. Sie diskutieren, ob sie wieder mit dem Fahrrad fahren. Werden sie, sonst erreichen sie den Spielplatz nachmittags erst zur Heimgeh-Zeit.

Hänsel darf noch schlafen. Heute stehen die Deutsch-Aufgaben auf dem Plan. Und die Küche. Und der Wäschehaufen, den er einfach aus seinem Zimmer ins Bad verlagert hat. Eigentlich sollte beides schon gestern erledigt worden sein. Die Kinder haben es jedoch vorgezogen, nur Schmarrn zu machen. Sie haben es sogar geschafft, noch mehr Chaos zu verbreiten. Das muss beseitigt werden.

Als die Mutter ihre Arbeitszeit absolviert hat, radelt sie heim. Aus dem gemeinsamen Essen von Mutter und Sohn wird nichts. Der Junge schläft.
Weder Küche noch Badezimmer sind ordentlicher als morgens, im Gegenteil. Die Zutaten für sein Frühstück hat der Junge mitsamt der leeren Verpackungen einfach liegen gelassen.

Die Mutter macht sich Wraps und setzt sich auf den Balkon. Sie ist genervt. Wenn Hänsel aufwacht, wird er ihr sicherlich erzählen, dass er auch seine Hausaufgaben nicht erledigt hat. Und möchte dennoch mit zum Bolzplatz. Soll er. Abends wird er ausreichend Zeit zum Ordnung machen haben. Er ist ja ausgeschlafen.

Sie fahren sie zum Kindergarten und mit Gretel weiter zum Spielplatz. Hänsel beichtet seiner Mutter, dass seine Hausaufgaben heute nicht angerührt worden sind. Fein. Er hat noch fünf Tage Zeit, bis seine Lehrerin ihm sagen wird, was sie davon hält.

Auf dem Spielplatz angekommen toben die Kinder, planschen im Wasser, bolzen, ärgern die Mütter und futtern alle Brotzeitboxen leer.

Viel zu spät machen sie sich auf den Heimweg. Viel zu spät kommen die Kinder ins Bett.

Vorher muss Hänsel noch seine unerledigten Aufgaben von heute nachholen. Ansonsten fällt der für den nächsten Tag geplante Mutter-Sohn-Ausflug aus. Pädagogisch eine Katastrophe, nervlich notwendig.

Zum Glück hat die Mutter beim Einkaufen an Bier gedacht. Lediglich eines, aber immerhin. Das öffnet sie nun, schließt die Balkontür von außen und lässt in der Wohnung das Drama seinen Lauf nehmen.


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