Die ersten Töne des Wecksongs erklingen. Vollkommen k.o. snoozt die Mutter ihren Lieblingssänger. Sie ist restlos erledigt. Alles tut ihr weh. Augen öffnen ist nicht möglich. Sie möchte den Wecker ausschalten und einfach weiterschlafen. Doch immer wieder versucht er, die Mutter wach zu bekommen.

Heute vor elf Jahren wachte die Mutter ebenfalls müde auf. Sie war schwanger, es war heiß und sie war alleine zu Hause. Als sie den Fernseher einschaltete, lief auf allen Kanälen nur eines: Ihr absoluter Lieblingssänger ist tot. Fassungslos saß die Mutter vor dem Fernsehgerät. Die Tränen liefen wie verrückt über ihr Gesicht. Sie konnte es nicht glauben. Sie wollte es nicht glauben. Auch heute kann sie es noch immer nicht fassen. Auch heute liebt sie ihn noch genauso, wie sie es seit ihrer Jugend getan hat. Bei dem Witz, ob sie ihren Sohn Michael Joseph nennen wollen, war dem Vater des Kindes nicht wirklich zum Lachen zumute. Zugetraut hätte er es der Mutter.

Mit diesen Gedanken öffnet sie nun die Augen. Ein guter Start in den Tag sieht anders aus. Immerhin ist sie wach.

Nach insgesamt zehnmaligem Snoozen steht sie auf. Sie muss die Brotzeit für Gretel noch vorbereiten. Gestern Abend war sie zu müde. Jetzt sieht es allerdings nicht anders aus.

Erst einmal aber geht sie duschen. Währenddessen darf sich die Kaffeemaschine schon auf ihren Einsatz freuen.

Müde setzt sich die Mutter mit ihrem Kaffee an den Tisch. Gretel schläft noch. Ernsthaft denkt die Mutter darüber nach, sich zu dem kleinen Mädchen dazuzukuscheln und den Tag erst später beginnen zu lassen. Es gibt kaum etwas, das sie jetzt lieber täte. Dennoch entscheidet sie sich dagegen und schlürft weiter ihren Kaffee.

Sie weckt Gretel. Zärtlich streichelt sie dem Mädchen die Haare aus dem Gesicht und gibt ihrer Tochter einen Kuss. Das freundliche „Guten Morgen“ wird mit einem Kopfschütteln abgewiesen. Recht hat die Kleine.

Kurze Zeit später fahren die beiden los.

Dass sich die Nachmittagspläne der drei zerschlagen haben, kommt der Mutter im Laufe des Vormittags sehr gelegen. Ihr Kopf meldet, dass das Wetter kaputt ist. Völlig unkonzentriert arbeitet sie ihre to-dos ab. Pünktlich verlässt sie auch heute das Büro. Hänsel hat gekocht.

Später wird sich Gretel wünschen, skaten zu gehen. Ob Hänsel mitkommen wird, ist noch nicht sicher.

Der Junge ist traurig. Vor einigen Tagen hat der Vater Andeutungen gemacht, die Kinder am Wochenende zu sich zu nehmen. Auf Nachfrage erhalten Mutter und Sohn mehr als eineinhalb Tage keinerlei Reaktion. Daher sagt Hänsel seinem Vater ab. Er möchte sich im Sommer auf seine Wochenenden freuen und nicht im Ungewissen gelassen werden. Vielleicht mag er im Herbst wieder zu ihm.

Die Mutter nimmt den Jungen fest in den Arm. Er ist so tapfer. Während der Mutter Tränen in die Augen schießen, als die beiden sehen, dass der Vater zwar online ist, seinem Kind aber nicht antwortet, drückt der Junge seine Mutter fest an sich. „Mama, so ist der Papa eben. Der wird sich nicht mehr ändern, daher nehme ich ihn so, wie er ist. Und er muss akzeptieren, wie ich bin.“ Puh. So viel Verständnis und Größe in so einem kleinen Körper. Die Mutter ist stolz auf ihren Sohn. Gemeinsam mit Gretel werden sie tolle Pläne für das Wochenende schmieden.

Erst einmal muss Gretel aber abgeholt werden.

Eigentlich wollte das Mädchen skaten. Nun aber haben die Schildkröten sie wieder in ihren Bann gezogen.
Eigentlich wollte Hänsel bolzen gehen. Nun aber sitzt er mit seiner Schwester im Bann der Schildkröten auf der Couch.
Eigentlich wollte die Mutter einkaufen gehen, Brotzeit für Gretel morgen und Bier oder Sekt für sich heute. Nun aber sitzt sie im Bann der Lustlosigkeit auf dem Balkon.

Morgen ist auch noch ein Tag.

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