Die Mutter wird von einem Geräusch geweckt. Verwirrt versucht sie, es zuzuordnen. Bis sie verstanden hat, dass es sich um das Klingeln eines Weckers handelt, ist sie bereits wach. Vier Uhr. Mutig von Hänsel, sie so auf die Probe zu stellen.

Sie nutzt die Zeit und arbeitet in Ruhe. Sie ist sogar recht gut gelaunt.

Bis die Kinder aufwachen, ist der Arbeitstag beinahe vorüber. Noch einen Call und dann ist Wochenende.

Eingeläutet wird das mit einem Sonnenbad auf dem Balkon. Danach soll es an den Lieblingsort der Mutter gehen.

Sie warnt die Kinder vor. Die Strecke dorthin ist nicht schön zu radeln, für das Mädchen ohne Gangschaltung wahrscheinlich auch nicht ganz so einfach. Allerdings hat sie gestern mit Bravour unter Beweis gestellt, was sie so alles schaffen kann. Das klappt bestimmt auch heute.

Die Mutter ist hoffnungsvoll. Und müde. Eigentlich müssten noch Getränke für das Wochenende gekauft werden. Die Ambitionen sind jedoch gering. Sowohl fürs Einkaufen als auch fürs Radeln. Am liebsten würde sie einfach schlafen.

In Gedanken jedoch ist sie bereits an ihrem geheimen Lieblingsort. Wahrscheinlich werden auch dort, wie an allen anderen eigentlich abgelegenen Plätzen, an denen sie gerne ist, immer mehr Menschen sein.

Und nach Menschen ist ihr gar nicht. Eher nach einem Buch. Sie überlegt, den neuesten Roman ihrer Lieblingsautorin zu bestellen, sieht aber davon ab, weil sie nicht an mehrere Stunden ungestörtes Lesen glaubt. Und Etappenlesen mag sie bei Krimis nicht.

Sie könnte auch etwas für ihr Studium tun. Mag sie aber auch nicht. Sie mag einfach nichts tuend an ihrem Herzensort sein. Oder auf dem Balkon.

Die Kinder wollen spielen. „Wunderbar“, denkt sich die Mutter, „kann ich weiter auf dem Balkon vegetieren und weiter an den Lieblingsort denken, ohne in der Mittagssonne radeln zu müssen.“

Gretel kommt zu ihrer Mutter gerannt. „Maaaaaaamiiiiiii“, sie legt ihr zauberhaftestes Lächeln auf, „es ist soooooo eine Hitze, darf ich ein Eis?“ Die Mutter schaut das Mädchen fragend an. „essen. Bitte. Liebste Mami auf der gaaaaaanzen Welt?“ Überzeugend ist sie ja. Und bei solch kräftigen Argumenten ist ein „nein“ gar nicht möglich. Fröhlich hüpft das Mädchen zum Kühlschrank und holt sich ein Eis. Hänsel liegt weiterhin in seinem abgedunkelten Zimmer. Die Pubertät hat ihn voll im Griff. Die Mutter ist, überraschenderweise, immer noch nicht eingeschlafen.

Gretel kommt mit ihrem verletzten und einbandagierten Waschbären zur Mutter. Tränchen hat sie in den Augen. Die Mutter möchte wissen, was der Waschbär denn hat. „Dasselbe wie ich, Aua beim Gehen.“ Herzzerreißend.

Nachdem die Mutter den Kinderfuß, der ihr mit diesen Worten direkt ins Gesicht gehalten wird, aus selbigem entfernt hat, sieht sie, was das Mädchen hat: zwei Füße voller Holzsplitter!

Beide sind ratlos, wie das passiert sein kann. Gestern ist sie nur auf Wiese und im Bach barfuß gewesen. Aber wo auch immer sie herkommen, raus müssen sie. Also wird Gretel in die Badewanne verfrachtet.

Es klingelt. Aufgeregt befiehlt Gretel ihrem Bruder, der neben der Wanne steht und aufpasst, dass sie nicht zu weit rausschwimmt, gefälligst die Tür zu öffnen. Tut er, während die Mutter schnell ihre Snoopy-Boxershort gegen eine richtige Shorts tauscht und ein Shirt anzieht. Ein freundlich lächelnder, gar nicht unattraktiver Paketbote steht vor der Tür und bringt das bestellte Geburtstagsgeschenk.

Neugierig schleppt Hänsel das Paket ins Wohnzimmer und öffnet es. Voller Begeisterung beginnt er, seiner Mutter das Trampolin aufzubauen.

Sie setzt sich wieder nach draußen und trinkt Bier.

Die Kinder haben soeben beschlossen, dass sie heute nicht mehr raus wollen. Glücklich über diese Entscheidung überlegt die Mutter, ob sie später noch joggen gehen wird. Auch war da ja was mit Einkaufen. In Gedanken setzt sie beides auf Snooze, morgen ist auch noch ein Tag.

Da sie den Kindern heute erst etwas zu Essen macht, wenn diese die Küche aufgeräumt haben, wird es ein entspannter, kochfreier Abend. Sollen die beiden eben Toast essen. Was eigentlich als Aufforderung zum Abwaschen gedacht war, löst helle Begeisterung aus. Egal. Mutter hat Bier. Und eine singende Tochter in der Badewanne. Und mit viel Glück in ein paar Stunden ein aufgebautes Trampolin.

Oder auch nicht. Hänsel hat seine Arbeit niedergelegt und sitzt mit in der Badewanne. Seit einer gefühlten Ewigkeit dringen Kampfgeräusche aus dem Badezimmer in Richtung der mütterlichen Ohren auf dem Balkon. Dazu gegeneinander fahrende Boote und Piratenschreie. Gretel möchte ein Wasserduell, Hänsel setzt das Badezimmer unter Wasser. Beste Voraussetzung, dass die beiden nachher auch noch den Boden wischen.

Sklaven sind etwas Feines. Wenn auch die Mutter sie mit ihren Nerven und Tonnen von Würstln und Eis teuer bezahlt.

Eine Stunde später ist das Trampolin aufgebaut. Zwei Fingernägel sind dabei einen grausamen Tod gestorben, eine ehrenvolle Beerdigung werden sie im Staubsauger finden. Die Kinder sind aus der Wanne raus, ob sauber, möchte die Mutter gerne unbeantwortet lassen.

Die Kinder einigen sich: Hänsel bringt das Bad in Ordnung, Gretel die Küche. Währenddessen trauert die Mutter um ihre Nägel. Ruhet in Frieden, viele Grüße an die Schokohasen.

Als die Mutter das Trampolin, ihr Trampolin, ausprobieren möchte, stehen zwei zuckersüße Kinder neben ihr. „Mami, darf ich auch mal?“, „Mami, das machst du toll“. Das zuckersüß schwindet, die schwarzen Seelen der Kinder kommen zum Vorschein: „Mami, die Frau da im Fernsehen macht das aber ganz anders“, „Mami, die Frau springt weiter, warum du nicht?“, „Mami, kannst du nicht mehr?“, „Mami, dürfen wir dann jetzt endlich?“ Kinder sind so etwas wunderbares. Ist es Zeit fürs Bett? Noch nicht? Schade. Nun ja, erst mal Bier. Und Tür zu. Lasse reden, und putzen.





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