Tränen fließen. Bitterlich geweinte Tränen. Tränen der Verzweiflung. Tränen der Hoffnungslosigkeit. Beinahe ein Jahr befinden Hänsel und Gretel sowie ihre Mutter nun in der Pandemie. Beim Gute-Nacht-Sagen am Vorabend brechen diese 50 Wochen aus dem kleinen Mädchen heraus. Sie ist traurig, dass sie ihre Großeltern so lange nicht mehr gesehen hat. Sie ist verzweifelt, dass niemand weiß, wann sie sie wieder sehen kann. Sie ist traurig, dass sie ihre Freunde so lange nicht gesehen hat. Sie möchte eine Freundin am Freitag gerne sehen, aber sie hat Angst, dass deren Mutter ablehnt. Sie möchte bei ihrer Freundin übernachten, und sie versteht nicht, dass ihre Mutter das in der momentanen Situation nicht möchte.

Tränenüberströmt werfen sich die knapp 120 Zentimeter Menschlein in die Arme ihrer Mama. Sie hasst Corona, wiederholt sie mehrmals. Sie will, dass das endlich aufhört, schluchzt sie. Mutter und Bruder sind ratlos. Fest nehmen sie das Mädchen in den Arm, suchen nach Worten der Aufmunterung, finden sie aber offensichtlich nicht.

Mit vereinten Kräften schaffen Hänsel und seine Mutter es, Gretel im Laufe des Abends wieder zum Lächeln zu bringen. Sie sagen gute Nacht und verabschieden sich bis zum nächsten Tag.

Aus dem nächsten Tag aber wird innerhalb der nächsten Stunde. Erst Hänsel und später auch Gretel haben der Mutter noch wichtige Dinge zu berichten. Selbst als die Mutter im Bett liegt, sie ist schlaftechnisch definitiv der Typ Eule und es ist bereits der nächste Tag, kommt Hänsel erneut zu ihr. Er hat etwas ganz schreckliches geträumt und kann nun nicht mehr einschlafen. Gemeinsam liegen die beiden nun, weit nach Mitternacht, wach im Bett der Mutter und sehen sich eine Comedy-Sendung an. Der Junge lacht und hat seinen Traum beiseite gedrängt. Als die Mutter eingeschlafen ist, schlurft er zurück in sein Bett.

Morgens liegt stattdessen Gretel an seinem Platz. Das Mädchen sieht friedlich aus und Hänsel ist beruhigt. Nun hat er Gewissheit, dass es nur ein Traum gewesen ist.

Müde und völlig erledigt setzen sich Mutter und Sohn an ihre Arbeitsplätze. Die Sonne scheint, die Rechner fahren ein Update und sie selbst versuchen sich mit Hilfsmitteln, die Mutter mit Kaffee, der Sohn mit lernen, wach zu halten.

Schon in der ersten Pause ist der Junge putzmunter. Bei der Mutter dauert es länger. Deutlich länger. Etwa bis zum Nachmittag. Gretel hat einen Termin, weswegen die drei das Haus verlassen müssen.

Der Himmel ist blau, die Sonne scheint, die Kinder sind schlau, die Mutter nicht. Sie zieht ihre hübschen Stiefeletten an, die Kinder ihre warmen. Eindeutig die bessere Entscheidung. Denn die Mutter friert schon sehr bald und drängt daher zur Eile.

Bei Hänsel wirkt heute die Wortschlange Englisch ebenso gut wie vor einigen Tagen das Schimpfwort-Alphabet. Gretel aber fühlt sich vom Schnee weitaus mehr angezogen als von einem schnellen Gehen.

Noch lange nach der Rückkehr sitzt die Frau, in eine Kuscheldecke eingepackt, frierend im Wohnzimmer, während die Kinder kochen. Für das nächste Mal wird sie schlauer sein.


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