Es ist noch dunkel draußen, kurz nach fünf Uhr, als im Zimmer der Mutter ein Geräusch zu vernehmen ist. Eine Flasche, die Gretel abends mitten in den Weg gestellt hat, fällt um. Eine Gestalt steht im Zimmer und wird seicht von etwas angeleuchtet. Der Mutter stockt für einen Moment der Atem. Was war das? Was passiert hier? Regungslos bleibt sie im Bett liegen und beobachtet die Situation.

Nach wenigen Augenblicken wird ihr klar, dass Hänsel dort steht. In seine Decke eingewickelt steht er vor der Alexa. Das Gerät leuchtet den Jungen blau an und lässt die Situation gruselig erscheinen.

In einer Mischung aus Besorgnis und Genervtsein möchte die Frau von ihrem Sohn wissen, was er da tut. Eine Antwort hat er nicht, er stottert etwas von er möchte in seinem Zimmer Geschichte hören. Zu müde für weitere Fragen dreht sich die Mutter um. Der Junge legt sich für eine kurze Zeit dazu, verschwindet aber schon bald wieder in seinem Zimmer. Dort schaltet er eine Geschichte an und schläft ein.

Die Mutter ist irritiert. Was war das? An Einschlafen ist nicht mehr zu denken, so dass sie ein wenig Nachrichten konsumiert.

Es ist März. Vor fast einem Jahr begann ihr neues Leben. In zwei Stunden wird sie sich mit Gretel auf den Weg zum Kindergarten machen und erneut hoffen, dass das Kind in der Einrichtung bleiben darf und nicht aufgrund eines Virus, irgendeines Virus, vorzeitig abgeholt werden muss. Währenddessen wird sie mit ihrem Sohn im Home-Schooling sitzen und hoffen, dass es für ihn noch möglichst lange nicht in den Wechselunterricht gehen wird. Komische Zeiten sind es.

Und komische Zeiten erfordern noch mehr Kaffee. So steht sie auf und drückt auf das Knöpfchen zum Glück. Über Nacht war das Fenster geöffnet, die Luft ist frisch und angenehm, wenn auch sehr kalt. So sitzt die Frau, in eine kuschelige Strickjacke gehüllt, am Esstisch und unterhält sich mit Gretel.

Das Mädchen liegt auf der Couch und freut sich auf den Tag. Sie darf mit Skates in den Kindergarten und kann es kaum erwarten, ihre Freunde wieder zu sehen.

Wieder zurück liegt Hänsel noch im Bett. Oder wieder. Die Mutter ist alles andere als begeistert, was der Junge den Vormittag zu spüren bekommt. Erneut führen die beiden ein Gespräch über Vertrauen und Verlässlichkeit. Anschließend nehmen sie sich in den Arm und der Junge bittet darum, mit dem inzwischen wieder geheilten Fuß seine Schwester mit abholen zu dürfen. Darf er.

Nachmittags muss die Familie zu Hause bleiben. Sie erwarten eine Lieferung, die sie persönlich entgegen nehmen müssen. Immer noch warten sie sowohl auf den Tisch als auch auf die Balkonmöbel – von beiden Lieferanten haben sie nichts mehr weiter gehört.

Gemeinsam machen sich Hänsel und die Mutter auf den Weg zum Kindergarten, ihr Mädchen abzuholen. Mit ihr geht es dann eine Runde spazieren, bis der Hunger und die gleichzeitige Hoffnung auf eine Lieferung der Lebensmittel sie nach Hause treiben.

Großzügig teilt Gretel dort ihre Brotzeit mit der Mutter, bevor Hänsel sich ans Kochen und Salat schnippeln macht. Nebenbei sieht die Mutter nach dem aktuellen Inzidenzwert und bekommt einen Schock. Der Wert ist fast doppelt so hoch wie in der Vorwoche, die Wahrscheinlichkeit auf ein entspanntes Rest-Kindergartenjahr sinkt.

Beim Abendessen fangen die Mädels an zu spinnen. Irgendwie kommen sie auf Blümchen und lassen die künstliche Intelligenz „Herz an Herz“ abspielen. Hänsel flüchtet sich entsetzt auf die Toilette. Der Anfall aber ist auch nach seiner Rückkehr nicht vorbei. Er sieht ein, dass es wohl kein Wort gibt, zu dem der Mutter nicht irgendein Song oder eine Band einfällt. So geht’s weiter mit Bush – Hänsel mag es, Gretel ist es zu langweilig. Die Mutter freut sich, einen wichtigen Beitrag zur Erhaltung ihrer Jugend in der nächsten Generation beigetragen zu haben.


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