Als die Mutter am Vorabend einen Heulanfall erleidet, kommt ihre Tochter sofort, um ihr die Tränen zu trocknen. Beeindruckt und dankbar schaut die Mutter ihrer Tochter ins Gesicht. Sie muss lachen. Hat sich Gretel doch glatt geschminkt! Wo auch immer sie den Puder gefunden hat, aufgetragen ist er. Glitzerpuder wurde kurzerhand zu Rouge umfunktioniert, dazu gab es rosa Lidschatten und sogar am Lidstrich und Wimperntusche hat sich das verrückte Mädchen versucht. Gretel hat sich hübsch gemacht, sie sieht zauberhaft aus.

Unter Protest inklusive einiger Krokodilstränen wäscht sich das Mädchen vor dem Schlafengehen das Gesicht. Jedoch nicht vollständig, wie die Mutter am nächten Morgen erschrocken feststellen wird.

Wie momentan jede Nacht kommt Gretel nachts zur Mutter ins Bett gekrochen und kuschelt sich an sie. Beide genießen die Nähe zueinander sehr. Heute wacht die Mutter schon einige Zeit vor dem Weckerklingeln auf. Sie schaut ihr kleines großes Mädchen an und erschrickt fürchterlich: Die Kleine hat ein fieses blaues Auge! Sofort ist die Mutter wach, Kaffee nicht notwendig. Erst einige Augenblicke später versteht sie, dass das der Lidschatten ist, den sich das Mädchen abends wohl noch über den rosanen aufgetragen hat.

Erleichtert, aber wirklich wach, steht sie auf und macht sich einen Kaffee. Ihre Gedanken kreisen wie verrückt um die letzten Tage. In diesen versunken schaltet sie den Rechner ein und nimmt das Handy zur Hand. Sie denkt über das Gespräch nach, das sie am Vorabend mit einer Freundin führte. Bevor sie aber nun wieder das Grübeln anfängt, beginnt sie lieber zu arbeiten. Motiviert ist etwas anderes, das liegt aber nicht nur an ihren privaten Dingen.

Die Kinder schlafen noch friedlich. Der Vater hat gestern Abend kundgetan, dass er seinen Sohn um acht Uhr an der S-Bahn erwarten würde. Um halb zehn schläft er immer noch. Die Mutter hatte klar gesagt, dass die Schulsachen zwar erledigt werden, die Kinder aber nicht geweckt werden. Sie sind Langschläfer, als Vater sollte er das wissen.

Inzwischen ist die Mutter mit ihrem Laptop auf den sonnigen Balkon gewandert. Von dem schlechten Wetter, das angekündigt war, ist weit und breit nichts zu sehen. Das freut sie sehr, denn so werden sie nachmittags wieder zu einer Radl-Tour aufbrechen.

Allerdings erst nach ihrem Date mit ihrem neuen Freund Markus S., der vielleicht nachher ihr nicht-mehr-Freund sein wird. Sie ist gespannt.

Gretel liegt derweil noch im Bett und singt. Die Mutter liebt die fröhliche Sorglosigkeit ihrer Tochter.

Hänsel schläft noch. Die Mutter liebt seinen natürlichen Schlafrythmus, der ihrem so sehr gleicht. Sie streichelt ihm zärtlich über das Gesicht und gibt dem hübschen Jungen einen Kuss.

In einer halben Stunde findet der Videochat mit seiner Klasse statt, vielleicht lässt sie ihn aber auch einfach weiter schlafen. Er scheint es zu brauchen. Und die Mutter auch. Ab morgen wird er sowieso täglich in der online-Prüfungsvorbereitung für den Probeunterricht an seiner präferierten Schule sein, da darf er heute ruhig ausschlafen.

Gleich startet der weekly Business-Call der Mutter. Lust hat sie, wie jede Woche, keine. Später werden sie noch einkaufen müssen. Milch für den Kaffee ist kaum mehr da, das duldet keinen Aufschub. Doch auch hierfür hält sich die Motivation in Grenzen. Sie möchte eigentlich nur aufs Fahrrad. Und weit weg fahren. Dorthin, wo noch niemand war, wie Mark in ihrem Kopf singt. Die Kinder sollen natürlich mit. Stattdessen erstellt sie traurig Prozessbeschreibungen für Arbeitsabläufe, die so niemals stattfinden werden.

Gretel möchte sich schminken. Darf sie. Dass sie das Badezimmer gleich mitschminkt, war jedoch nicht abgesprochen. Nachdem die Mutter die bunten Farben aus dem Waschbecken und vom Schrank entfernt hat, geht sie duschen. Gerne würde sie die traurigen Gedanken gemeinsam mit dem Wasser im Abfluss verschwinden sehen. Klappt aber nicht.

Sie zieht sich an, fordert die Kinder auf, Ordnung in ihren Zimmern zu machen und bereitet sich auf ihr Date mit Markus S. vor.
Viel interessantes erfährt sie nicht. Aber es schürt sich die Hoffnung, dass Hänsel ab 35+21 tatsächlich wieder zur Schule gehen dürfen wird. Nicht wie sonst, aber immerhin.

Feierabend für heute.

Die Kinder wollen radeln. Zu einem Ziel, das die Mutter heute nicht wirklich brauchen kann. Aber die Kinder wünschen es sich und dort kann sie sich sicher sein, dass die beiden spielen und toben werden. Sie selbst wird Zeit für ihre Gedanken haben. Vorsichtshalber packt sie Taschentücher ein. Und nutzt wasserfeste Wimperntusche.

Jetzt aber muss sie erst einmal bügeln. Jahrelang hat sie das vermutlich schon nicht mehr getan, dennoch weiß Hänsel sofort, wo er das Bügeleisen findet. Die drei Gesichtsmasken werden von Falten und zeitgleich wohl auch von Viren befreit. Kunststück, sind zwei von ihnen doch noch nicht benutzt worden.

Gretel liebt ihre Maske mit Giraffe und Äffchen, sie setzt sie gleich auf und läuft freudig zum Spiegel. Passt zu ihrer Schminke, stellt sie fest. Dass sie die schon längst hätte entfernen sollen, hat das aufgeregte Bündel vergessen.

Hänsel freut sich, dass sich das Blau seiner Maske wunderbar mit seiner Augenfarbe verträgt. Er muss sie nicht ständig tragen, aber zum Einkaufen und auch morgen in der Bahn geht das klar.

Die Mutter findet alles doof. Weder das Grau noch das Mint, beides sehr schöne Farben, passen zu ihrem aktuellen Outfit. Luft bekommt sie keine und überhaupt verweilt sie heute abwechselnd im Selbstmitleid- und Motzkimodus. Muss wohl Hänsel die Milch kaufen gehen. Zum Glück ist noch ausreichend Bier da.





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