Als die Mutter aufwacht, liegt zu ihrer Überraschung Gretel neben ihr. Zwar kommt das Mädchen seit Wochen jede Nacht zu ihr und hat auch sonst schon immer am liebsten neben ihrer Mutter geschlafen, aber mit dem Eulenland, wie die Kinder ihr Nest gestern noch getauft haben, dachte sie, sei es anders. Nun also liegt ihr kleines Mädchen erneut neben ihr. Hänsel hat sich im Eulenland eingekuschelt und schläft ebenfalls noch.

Die Mutter hat einen Auftrag abzuschließen. Müde startet sie ihren Laptop. Sie braucht erst einmal einen Kaffee.

Als sie mit ihrem Kaffee wieder zurück ins Bett möchte, ist dort kein Platz für sie. Ihr rund ein Meter zwanzig großes Mädchen hebelt, mal wieder, alle mathematischen und physikalischen Gesetze aus und bringt es fertig, eine Fläche von zweihundert mal einhundertsechzig Zentimetern komplett zu belegen. Vorsichtig schiebt die Mutter das schlafende Menschlein auf die Seite und macht es sich auf den etwa dreißig Zentimetern am Rand gemütlich. Oder so etwas in der Art.

Der Laptop wird immer noch gestartet. Er möchte ein Update. Die Mutter hätte auch gerne eins. Schön wäre, wenn die Bugs Müdigkeit, schlechte Laune, blöder Job und ungeputzte Wohnung behoben werden würden. Im Gegensatz zu ihr bekommt der Laptop sein Update.

Kurz blinzelt Gretel ihre Mutter verschlafen an. Schnell entscheidet sich die Kleine jedoch, weiterzuschlafen. Die Mutter nutzt die Zeit, um das versprochene Lektorat zu bearbeiten. Ironischerweise geht es dabei ums Lernen lernen. Vielleicht sollte sie sich nicht nur für das Lektorat zu Verfügung stellen, sondern auch als Praxistester? Aber heute ist erstmal Sonntag. Hat sie soeben erfahren. Also wird heute nicht gelernt. Nur gearbeitet. Und danach geradelt.

Nur wenige Meter nach dem Start bekommt die Mutter die Gelegenheit, ihre schlechte Laune an einem idiotischen Radrennfahrer auszulassen. Gretel ist hingefallen und weint bitterlich. Sowohl die Mutter als auch Hänsel eilen zu ihr. Der Radlfahrer meint, mit Höchstgeschwindigkeit unangemeldet an ihnen vorbei rasen zu müssen und die Mutter dabei auch noch zu beschimpfen. Nicht nur die Mutter, sondern zudem ein weiterer Radlfahrer, der zu Hilfe kam, lassen den Raser wissen, dass er im Unrecht ist. Wild schimpfend rast er von dannen. Der hilfsbereite Fahrer hingegen erkundigt sich, ob er etwas tun könne und bittet die Mutter, solche Menschen wie den Raser nicht ernst zu nehmen. Gretel ist schockiert, wie gemein der war. Hänsel ist beeindruckt, wie böse die Mutter aus dem Stegreif werden kann.

Nachdem sich alle wieder beruhigt haben, radeln sie weiter. Ihr eigentliches Ziel lassen sie, im wahrsten Sinne des Wortes, links liegen. Sie fahren weiter und weiter und weiter. Unbemerkt sind sie so schon bei der Hälfte der anvisierten Kilometer angekommen.

Das und den schönen Park, in dem sie angekommen sind, nutzen die Kinder für eine Pause. Eben schauen sie noch eine Steinschlange an, schon sind sie verschwunden. Statt ein Männlein steht im Walde gibt es heute eine Mutter steht allein mit Rädern im Park. Keine Spur von den Kindern. Würde sie jetzt weiterfahren, die beiden hätten keine Chance, sie jemals wieder zu finden.

Da die Mutter ihre Kinder aber liebt, ruft sie sie, um mit ihnen gemeinsam querfeldein durch Matsch und Pfützen weiter zu fahren.

Bei ihrem Lieblingsspielplatz halten sie kurz an. Die lange Steinschlange dort zieht die Faszination der Kinder auf sich. Neunhundertsiebenundfünfzig Steine zählt Hänsel. Gretel ist traurig, dass sie nicht spielen darf und wünscht sich einmal mehr, dass die Spielplätze wieder öffnen dürfen. Hänsel und die Mutter wünschen sich, dass die BMX-Bahn in der Nähe wieder öffnen darf.

Sie genießen ein wenig die Sonne, bevor sie weiterfahren. Einstimmig beschließen sie, dass der Weg heute besonders schön ist. Den wollen sie wieder fahren.

Zuhause angekommen bereitet Hänsel das Abendessen zu. Er hat sooooo einen Hunger. Für alle macht er Nudeln, Fischstäbchen für sich und seine Schwester, Schnitzel für sich und seine Mutter. Gemüse wird überbewertet.

Die Mutter holt sich ihre Vitamine später aus zwei bis siebzehn Bier, Gretel hat bereits mindestens drei Bananen intus und Hänsel braucht momentan sowieso mehr Kohlenhydrate als irgendwas anderes.

Während der Mann im Haus so brutzelt, natürlich das Essen brutzelt, hüpft Gretel wie wild auf dem Trampolin und singt (oder schreit vielmehr) minutenlang Thriller, Thriller, Thriller. Dass Alexa grade zwar, wie von Gretel befohlen, Michael Jackson in Dauerschleife wiedergibt, aber einfach nicht das Monster-Lied kommt, möchte Gretel nicht wahrhaben. Dass es einen Song gibt, der „Monster“ heißt, interessiert sie ebenfalls nicht. Sie lebt in ihrer eigenen kleinen Welt.

Zwei Bier, ein endloses Abendessen und etwa fünfzehn laut und falsch mitgesungene Michael-Songs später räumen die Kinder ihr Chaos auf.

Hänsel, süß wie er ist, fragt tatsächlich, ob sie heute wieder im Flur schlafen dürfen. Natürlich, nicht.

Weitere Michael-Songs folgen. Weitere Biere ebenfalls.





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