Es ist mitten in der Nacht. Draußen ist es noch dunkel. Draußen ist es noch still. Aus dem Kinderzimmer kommen Stimmen. Lautstark streiten sich Hänsel und Gretel. Die Mutter ist wach. Ein Blick auf die Uhr verrät ihr, dass es vier Uhr ist. Was zum Henker geht ein Zimmer weiter ab?

Gretel tapst zur Mutter. Unterm Arm hat sie ihre Kuscheldecke und Pandi, den Pandabären mit dem übergroßen Kopf und den riesigen rosa Glitzeraugen. Sie kuschelt sich zu ihrer Mutter in den Arm und ist fast schon wieder eingeschlafen, als die Mutter dreist nach dem Grund des Streits fragt. Sie muss sich mit der Information, dass Hänsel das Mädchen angeschrien habe, zufriedengeben, denn Gretel schläft bereits wieder.

Die Mutter liegt nun da. Mit einer Mischung aus Ungewissheit und Ärgernis schläft auch sie, viel später, wieder ein.

Am Morgen fühlt sie sich wie gerädert. Gretel schläft. Hänsel schläft.

Sie checkt ihre Mails. Die Lehrerin hat geschrieben! Es wird für Hänsel Montagmorgen um acht Uhr los gehen. Unglaubliche einhundertfünfunddreißig Minuten wird er in den nächsten drei Wochen täglich in der Schule verbringen.

Mit gemischten Gefühlen liest sich die Mutter alle Informationen durch. Nicht nur die minimale Unterrichtszeit, online wird keine Beschulung mehr für ihn stattfinden, macht ihr zu schaffen. Durch die Klassenteilung wird Hänsel an einem Tag der Woche einen anderen Lehrer haben. Das ist positiv. Doch die ganzen Regeln und Vorgehensweisen lesen sich wie in einem Endzeit-Drama. Der Junge ist zehn Jahre alt. Schule gehört sowieso nicht zu seinen Lieblingsbeschäftigungen. Mit all diesen Vorgaben wird sich das nicht ändern. So darf er etwa den ihm zugeteilten Bereich im Klassenzimmer nicht verlassen. Beim Betreten des Gebäudes werden die Kinder, nach Klassen sortiert, an unterschiedlichen Eingängen abgeholt. Bei Schulende müssen sie ebenfalls wieder im Entenmarsch und Abstand die Einrichtung verlassen.

Einmal mehr ist die Mutter froh, Gretel für das kommende Schuljahr nicht eingeschult zu haben. Die Vorstellung, wie die nächsten Wochen oder gar Monate für ihren Sohn werden, treibt ihr Tränen in die Augen.

Wenn die drei die Auswirkungen der Maßnahmen in den letzten Wochen alle als nicht so sehr tragisch empfanden, diese teilweise sogar ihren natürlichen Lebensrhythmus unterstützten, so wird es Hänsel ab Montag mit voller Wucht treffen.

Ein Konzept für Gretel steht noch nicht. Vierzehn Tage nach Hänsel wird es auch für sie soweit sein, dass sie zurück in ihren Kindergarten darf. Zumindest geht sie heute davon aus, kommen wird es anders.

Die Mutter bezweifelt, dass sich ihre Tochter, wie auch immer das Konzept aussehen wird, wohl fühlen wird. Wie ihre Mutter und ihr Bruder hat die kleine einen starken Bewegungsdrang. Sie spielt und rennt und braucht ihren Freiraum. Im Gegensatz zu den anderen beiden hat sie aber auch einen ausgeprägten Kuschelbedarf. Wenn sie traurig ist, wenn sie glücklich ist, wenn sie müde ist – es gibt so viele Momente, in denen Gretel, wenn auch nur mal kurz, in den Arm genommen werden möchte oder sich selbst an ihre Lieblingsmenschen herankuschelt. Das wird nicht möglich sein.

Das mütterliche Herz ist mit der Vorstellung, wie es ihren Kindern künftig gehen wird, überfordert. Es ist noch nicht einmal neun Uhr und sie schon sehr traurig.

Als die Kinder, mittags, wach und ansprechbar sind, muss der mütterliche Bewegungsdrang gestillt werden. Die Kinder wollen radeln, also geht’s ab auf die Fahrräder. Während Gretel sich tausend Spielplätze als Ziel wünscht, versucht die Mutter zu erklären, dass sie heute fahren möchte, statt den Nachmittag in der Sonne zu liegen. Völliges Unverständnis bei ihrem Nachwuchs. Die Mutter schlägt einen Abstecher zur Pumptrack vor. Hänsel hat keine Lust. Völliges Unverständnis bei seiner Mutter.

Sie radeln los. Das Ziel ist nun der Weiher, in den Hänsel vor ein paar Tagen hineingefallen ist. Die Sonne scheint, alle drei haben gute Laune. Als sie so fahren, schreit Hänsel plötzlich. Er hat sich auf die Lippe gebissen. Cool informiert er seine Mutter, dass das Blut schon lecker schmeckt.

Der kleine Vampir und seine Schwester wünschen sich ein Fotoshooting. Sie wissen auch schon genau wo. Bekommen sie. Und die Mutter bekommt, überraschenderweise, richtig schöne Bilder.

Sie spielen anschließend ein paar Meter weiter am Wasser. Sie hüpfen fröhlich umher, während im Hintergrund zahlreiche Frösche quaken. Die ersten Füße sind nass. Hänsel findet das unfair und möchte auch mit den Schuhen ins Wasser. Die zwei unterhalten die Senioren am Weiher bestens.

Nachdem sie alles erkundet haben, Gretels Schuhe nass sind, Hänsel in der Baumkrone saß und immer mehr Senioren den Platz einnehmen, radeln sie weiter. Es geht über Felder und Wiesen, quer durch den Wald und über den Lieblingsspielplatz wieder zurück.

Sie beschließen, bei Oma und Opa vorbei zu schauen. Hänsel darf vorfahren, vielleicht kann er schon mal Rasen mähen.
Aus dem nur mal eben kurz hallo sagen wird ein gemeinsames Abendessen mit anschließendem Ratsch. Der Opa darf außerdem Gretels Fahrrad neu justieren.

Die Idee der Mutter, die Kinder in drei Wochen wieder abzuholen, wird einstimmig von der älteren Generation abgelehnt. Schade.

Zuhause angekommen, vollständig, gehen die Kinder ins Bett. Sie wollen noch „Das geheimvolle Kochbuch“ schauen. Hänsel liebt es, wie seine Schwester den Titel falsch nennt. Er liebt seine Schwester. Die Mutter liebt ihre Kinder. Und Bier.

Sie sagt den beiden Gute Nacht, holt sich eins und macht es sich auf der Couch gemütlich. Endlich Ruhe. Endlich Bier.





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