Auch dieser Tag beginnt früh. Zu früh für die Mutter. Zu früh für Hänsel. Zu früh für gute Laune.

Der Junge wird von seiner müden Mutter geweckt. Er verspricht, gleich aufzustehen. Als sie wieder an ihren Arbeitsplatz zurückkehrt, nutzt er jedoch die Gelegenheit, um wieder einzuschlafen. Kurz bevor er losmuss, stürzt die Mutter erneut ins Prä-Pubertier-Zimmer und scheucht den Jungen im Eiltempo hoch. Sie ist genervt. Er ist genervt. Gretel schläft.

Die Mutter geht arbeiten. Der Junge geht in die Schule. Gretel dreht sich noch einmal um und schläft weiter.

Einige Stunden später, die Mutter arbeitet immer noch, wacht Gretel gut gelaunt auf. Es wird kurz gekuschelt, bevor die Mutter in den nächsten Call muss. Dieser hat es in sich. Die Mutter braucht Urlaub. Noch zwei Wochen, dann hat sie endlich eine Auszeit.

Nachdem die Mutter ihre Arbeit vorerst beendet hat, gehen die drei raus. Sie spazieren über den Friedhof. Gretel möchte dort ein Mädchen besuchen, das sie selbst gar nicht kannte. Aber die Mama ihrer meistens-besten Freundin. Das ist für die empathische Vorschülerin ausreichend, um das Grab immer wieder besuchen zu wollen. Das fremde Mädchen ist vor vielen Jahren gestorben. Sie war in Hänsels Alter und wurde von einem Auto erfasst. In andächtigem, aber auch forderndem Ton gefälligst auf sich aufzupassen, gibt Gretel alle ihr bekannten Informationen nun detailliert an ihren Bruder weiter. Dieser ist schockiert und traurig zugleich. Er verspricht seiner Schwester, dass er immer ordentlich schauen wird, bevor er die Straße überquert. Die beiden nehmen sich in den Arm, schauen die Mutter an und verkünden, dass sie nun weiter gehen können.

Ihr Weg führt sie ein weiteres Mal zum See. Dort angekommen zählt Hänsel die Steine in der Schlange und Gretel klettert in den Bäumen. Die Mutter fotografiert.

Freudig läuft Gretel weiter zum Biberbau, um dann enttäuscht festzustellen, dass die Absperrung immer noch vorhanden ist. Das Mädchen würde so gerne wissen, wie es dem Biber geht und ob er wieder schläft. Doch sie hat keine Chance, an den Biber heranzukommen.

Es wird kühl. Sie beschließen, sich auf den Heimweg zu machen. So hat die Mutter vor dem Abendtermin noch ein bisschen Zeit, in Ruhe einen Kaffee zu trinken. Oder zwei. Außerdem hat sie die irrsinnige Hoffnung, dass die Kinder vielleicht endlich ihre Zimmer ein wenig vom Chaos befreien.

Daheim angekommen, erkennt sie das Ausmaß des Irrsinns ihres Gedankens: Anstatt ihre Zimmer auch nur zu betreten, macht sich die Meute über den Inhalt des Kühlschranks her. Sie futtern alles, was ihnen in die Finger kommt. Ob die Mutter später noch ihren versprochenen Salat bekommen wird, wagt sie zu bezweifeln. Aber sie bekommt einen – doppelten und extrastarken – Kaffee und ist glücklich.

Nach Beendigung des Calls fällt die Mutter aus allen Wolken. Statt Ordnung in den Zimmern zu machen, haben die Kinder es tatsächlich fertiggebracht, noch mehr Chaos anzurichten. Und das nicht nur in ihren Zimmern, sondern ebenfalls in Flur und Küche. Die genervte Mutter macht ihre Drohung wahr und schickt die beiden um nicht einmal halb sieben ins Bett.

Sie selbst setzt sich auf die Couch und denkt nach. Heute ohne Bier. Und ohne weiteren Kaffee. Die Kinder liegen in ihren Betten. Auch ohne Bier. Und ohne Kaffee.

Der Vater der Kinder hat angekündigt, dass er am Wochenende seiner Umgangspflicht nach neun Wochen nicht-kommuniziertem-sondern-einfach-praktiziertem Aussetzen wieder nachkommen möchte. Vielleicht hat sie es aber auch nur geträumt, dass die Kinder mal wieder Zeit mit ihrem Vater verbringen dürfen, denn eine entsprechende Nachricht findet sie keine. Wahrscheinlich ist sie deswegen so gereizt. Wahrscheinlich ist Hänsel deswegen so gereizt.

Wenn es so kommen sollte, dass die Kinder nicht da sind, wird die Mutter ihre lang ersehnte freie Zeit mit Radfahren nutzen. Nur Radfahren. Weit fahren. Alleine fahren. Die Ruhe genießen. Vielleicht ein Hörbuch hören, vielleicht ein wenig zeichnen. Für abends hat sie sich eine Serie vorgenommen. Sie freut sich. Aber nicht zu sehr. Denn sie weiß ja nicht, ob die Kinder tatsächlich beim Vater sein werden. In der heutigen Kommunikation hat er nichts dergleichen erwähnt.

Die Mutter ist müde. Ganz anders als die Kinder. Gretel liegt in ihrem Bett, hört Geschichte. Hänsel liegt wieder in seiner Höhle. Als die Mutter die Tür öffnet, legt er schnell sein Handy zur Seite und tut so, als würde er schlafen. Blöd für ihn, dass das Licht des Telefons durch die Decken der Höhle optimal zu erkennen ist. Er wird sich morgen früh selbst wecken können, die Mutter hat keine Lust mehr. Sie geht ins Bett und will von alledem nichts mehr wissen. In ihrem nächsten Leben wird sie ein Gänseblümchen.





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