Eigentlich müsste Hänsel heute gut erholt aufwachen. Mehr zwölfeinhalb Stunden vor seinem Wecker-Klingeln hat die Mutter ihn ins Bett geschickt. Dass er nicht direkt geschlafen hat, war der Mutter bereits gestern klar. Nun aber ist es ganz offensichtlich, denn der Junge ist ebenso müde wie die letzten Tage. Und wie seine Mutter. Was natürlich nicht daran liegt, dass Hänsel um kurz nach sechs Uhr Benjamin Blümchen lautstark durch die Wohnung tröten ließ.

Er freut sich schon sehr auf die kommende Woche, wenn er erst um viertel vor elf in der Schule sein muss. Die Mutter freut sich ebenfalls.

Denn im Gegensatz zu ihrem Sohn weiß sie bereits ganz genau, dass der Wecker im Prä-Pubertier-Chaos sicherlich nicht erst um kurz vor zehn läuten wird. Ob sie ihn gleich um sieben Uhr aus dem Schlaf reißen wird, muss sie noch mit sich selbst diskutieren, aber länger als acht Uhr wird es gewiss nicht. Er wird nicht sonderlich erfreut sein. Ihr ist das egal.

Sie beginnt zu arbeiten. Kurz nach Unterrichtsende heute möchte auch sie in das Wochenende starten.

Müde macht sie sich auf den Weg zur Kaffeemaschine. Ihr bester Freund muss sie heute umfänglich versorgen. Nicht nur ihr Geist ist müde, auch ihr Körper ist schwach. Kaffee ändert daran nichts, schmeckt ihr aber.

Schon in der Früh hat sie einen spontanen Call. Der tut ihr sehr gut. Zumindest auf den zweiten Blick. Denn obwohl sie sich aufregt, zeigt es ihr einmal mehr sehr deutlich, was sie sich von ihrem Job wünscht. Dass die Umsetzung nicht einfach wird, steht auf einem anderen Blatt Papier. Aber sie sieht immer klarer.

Sie sieht auch die Nachricht ihres Ex-Mannes sehr klar. Fordernd und respektlos erscheint die Buchstabenabfolge auf dem Display ihres Telefons. Statt seine Kinder zu dem vor langer Zeit vereinbarten Umgangswochenende wie geplant abzuholen, möchte er seine Kinder lediglich am Nachmittag abholen. Die Unterlagen, um die ihn die Mutter bereits am vergangenen Wochenende gebeten hatte, hat er noch nicht. Macht nichts, ist bloß dringend eine Frist einzuhalten. Geht nur um seine Kinder, ist nicht so wichtig.

Die Mutter tippt eine Antwort. Sie nimmt einen Schluck Kaffee und löscht die Antwort. Sie trinkt einen weiteren Schluck und legt das Handy zur Seite. Für die Gedanken, die sie im Moment hat, käme sie in manchen Ländern dieser Erde ins Gefängnis.

Später antwortet sie ihm. Sehr direkt, sehr ehrlich, sehr genervt. Selbstverständlich erachtet er es nicht für notwendig, sich im Laufe des Tages dazu zu äußern.

Als Hänsel aus der Schule kommt, befindet sich die Mutter in einem weiteren Call. Er setzt sich zu seiner Schwester, die neben der Mutter ihr Frühstück einnimmt. Das Mädchen ist erst seit Kurzem wach.

Nach Beendigung des Telefonats berichtet Hänsel von seinem Tag. Er ist gut gelaunt und freut sich, dass die Vertretungslehrerin, die sie freitags künftig unterrichten wird, den Kindern keine Hausaufgaben gegeben hat. Er wünscht sich, dass sie den Nachmittag heute zu Hause verbringen, da es auf seinem Heimweg geregnet hat und außerdem fürchterlich kalt ist. Auch Gretel unterstützt diesen Vorschlag. Obwohl sie schon ein wenig traurig ist. Sie hatte fest eingeplant, dass sie heute zu ihrer Lieblingseisdiele gehen und dort ein großes, leckeres Eis bekommen. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben.

Die beiden lassen die Mutter, inzwischen auch im Wochenende angekommen, allein auf der Couch zurück. Sie gehen ihre Zimmer aufräumen.

Sie gehen bitte was? Die Mutter sitzt ungläubig im Wohnzimmer und kann es nicht fassen. Die Kinderzimmer-Alexas spielen einheitlich eine Benjamin-Blümchen-Folge, weitere Geräusche sind aus der Richtung der Zimmer nicht zu vernehmen. Keinerlei Gemecker, keinerlei Streitereien. Sicherheitshalber bewegt sich die Mutter nicht, um die Wesen, die dort in den Zimmern werkeln, nicht zu irritieren.

Beide Wesen schleichen sich an die Mutter heran und überfallen sie mit einer hinterhältigen Knuddelattacke. Die Mutter, vollkommen wehrlos, ergibt sich ihrem Schicksal. Als auch noch eines der Wesen singt, dass es später Pizza-Pizza-Pizza und für die Mutter dazu einen Salat zubereiten wird, erkennt sie, dass sie keine Chance hat. Die Wesen haben Macht über sie ergriffen und zwingen sie nun, auf der Couch zu bleiben und sich den restlichen Tag nicht mehr zu bewegen. Sie versorgen sie mit Küsschen, Kaffee und Kuscheln. Sie schalten den Fernseher ein und starten Cory-Cory-Cory-ich-will-auch-mitschauen-Coryyyy! Dazu Pizza und Salat. Welch tragisches Ende für einen solch müden Tag!





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