Abends hat die Mutter zwei weinende Kinder im Arm. Hänsel hält den Druck, nicht zu wissen, wie es in der nächsten Woche schultechnisch mit ihm weitergeht, nicht mehr aus und Gretel ist verzweifelt, weil sie ihren Kindergarten so sehr vermisst.

Wie die beiden auf diesen Gedanken gekommen sind, weiß die Mutter nicht. Es ist auch irrelevant, es bricht ihr das Herz, ihre Kinder so zu sehen und nichts tun zu können.

Sie wiederholt die Ansprache, sich auf die schönen Dinge zu konzentrieren, drückt die zwei ganz fest und gemeinsam überlegen sie, was sie die nächsten drei Tage anstellen könnten.

Während diese Vorgehensweise bei Hänsel auch dieses Mal hilfreich ist, mag Gretel nicht mehr. Sie will, dass das alles aufhört. Sie will, dass sie spielen kann, mit wem sie will und dass sie sich nicht zwischen ihren Freunden entscheiden muss. Sie will, dass ihr Bruder wieder ins Training darf und sie selbst will alle ihre Freunde umarmen. Sie will endlich in den Dinopark und ins Schwimmbad und in den Indoorspielplatz und ihren Schulranzen kaufen.

Dicke Tränen rinnen dem Mädchen die Wangen herunter, als sie sich ganz dicht an ihre Mama kuschelt. Sanft streicheln die Frau und Hänsel das kleine Mädchen, bis es ihr wieder ein wenig besser geht. Gretel möchte schlafen, denn im Traum sprechen pflanzenfressende Dinosaurier und alles ist schön dort.

Traurig lächelnd sagt die Mutter erst dem Mädchen und anschließend auch Hänsel gute Nacht. Sie überlegt, was sie am nächsten Tag unternehmen könnten, um vor allem Gretel von ihrer Trauer abzulenken. Ob der Tag, an dem morgens die Lockerungen in Kraft treten und nachmittags wahrscheinlich die Entscheidung zur Schließung der Kindergärten sowie Distanzunterricht für Schulkinder verkündet wird, dafür richtig ist, bezweifelt sie.

Die Frau geht ins Bett. Gerne würde sie ihren Kindern das geben, was sie brauchen: Hänsel Planungssicherheit und Gretel Kuscheln mit ihren Freunden. Und sich selbst einen neuen Kasten alkoholfreies Weißbier aus dem naheliegenden und hochinzidenzten Landkreis. Sie setzt einen riesigen Eisbecher der Lieblingseisdiele der Kinder auf den Plan für den nächsten Tag, auch bei den angekündigten 13 Grad bei Bewölkung.

Die Nacht ist seltsam. Nicht nur für die Mutter, auch für Gretel. Denn diese kuschelt sich weinend zu ihrer Mama. Morgens jedoch ist sie nicht mehr da. Dass das daran liegen könnte, dass es auch nicht mehr wirklich morgens ist, als die Mutter aufwacht, kommt der Frau erst später in den Sinn.

Ihr erster Gedanke gehört dem Inzidenzwert. Der Blick auf die Seite des Landratsamts lässt ihre Befürchtung wahr werden: Schulen in der kommenden Woche im Distanzunterricht, Kindergärten in der Notbetreuung.

Sie kann nicht mehr. Sie weiß nicht mehr, wie sie mit all diesen Dingen umgehen soll. Wie soll sie ihren Kindern erklären, dass sie nicht in die Schule und den Kindergarten dürfen, die Leute aber in den Urlaub fliegen und Shoppen können? Wie soll sie den Kindern erklären, dass Empathie eine wichtige Eigenschaft ist, wenn der Egoismus um sie herum immer lauter wird? Und möchte sie das überhaupt noch erklären können?

Hänsel versorgt seine Mama mit Kaffee. Er kümmert sich gut um sie. Mehr als um sich selbst. Das haben die beiden gemeinsam.

Nachmittags brechen die drei zu ihrer vereinbarten Runde auf. Die Mutter zu Fuß, die Kinder mit dem Roller. Es geht zum und um den See und dann weiter zur Eisdiele. Vorbei an den zwar geöffneten, aber kaum besuchten Shops und quer durch die Innenstadt mit Maskenpflicht. Theoretisch. Denn praktisch tun viele, was auch immer sie wollen. Die fragenden Blicke der Kinder beantwortet die Mutter mit einem Schulterzucken. Sie hat keine Antworten mehr.

Inzwischen sind die Infos zur nächsten Woche sowohl vom Kindergarten als auch von der Schule eingegangen. Gretel kauft der Mutter die Aussage einer dritten Ferienwoche, die aber nur sie und weder die Mutter noch Hänsel haben, nur kurzzeitig ab.

Zuhause zieht sich die Mutter zurück. Weder mental noch körperlich ist sie heute für noch irgend etwas in der Lage. Die Kinder lassen sie in Ruhe, getrennt warten sie auf den Einkauf. Den räumen die Kinder ein, Hänsel bereitet das Abendessen zu und dann starten sie ins Wochenende. Und in eine erneute Zeit des Ungewissen.


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