Der Tag beginnt gemütlich. Die Kinder schlafen noch, die Mutter ist faul. Doch das wird sich schon bald ändern.

Gretel freut sich, dass sie der Mutter heute einen oder zwei, vielleicht auch dreizehn Kaffee machen darf. Hänsel freut sich, dass er bei dieser Aufgabe offensichtlich raus ist. Weniger freut er sich, dass die Mutter dreisterweise schon wieder verlangt, dass sein Zimmer endlich aufgeräumt wird. Die nervige Mutter zu ignorieren funktioniert nicht mehr, also versucht er es mit Selbstmitleid. Doch das triggert die Mutter, er müsste es eigentlich wissen, noch mehr.

Er hat selbstgewählte fünfundzwanzig Minuten Zeit, wenn dann nicht aufgeräumt ist, wird er sich wünschen, niemals Unordnung gemacht zu haben. Die Mutter mag nicht mehr. Die Tüten und Kisten für seine Spielsachen stehen bereit. Ist das Zimmer nicht zur angesagten Zeit fertig, wird der Junge künftig keine Spielsachen mehr in seinem Zimmer vorfinden, andere Kinder werden sich über die Sachen bestimmt freuen.

Er weiß noch nicht, dass das Leiden Hänsels mit dem aufgeräumten Zimmer, an das sowieso niemand wirklich glaubt, noch lange nicht beendet sein wird. Alles, was in den letzten vier Wochen nicht erledigt worden ist, wird er heute und morgen tun. Aber auch diese Ansage wird von dem Prä-Pubertier ignoriert, so dass jede erneute Erwähnung nicht nur Staunen, sondern auch immer wieder Empörung mit sich bringen wird.

Die Mutter bucht im Kopf schon ihren Urlaub. Ob fünf Jahre ausreichend sein werden?

Hänsel hat sich gewünscht, in der kommenden Woche an einem digitalen Camp teilzunehmen und lernen zu dürfen, wie man eine App programmiert. Wahrscheinlich denkt er dabei an eine lass-die-ätzende-Mutter-endlich-verschwinden-App. Die Hoffnung nimmt die ätzende Mutter, die grade selber nichts lieber als verschwinden würde, ihm nicht. So sehr sie hofft, dass sowohl das Aufräumen als auch die Schulsachen nach vier Wochen nervenaufreibendem Kampf endlich erledigt werden, so sehr darf auch ihr Sohn hoffen, dass sie damit aufhören wird zu nerven.

Spoiler: Wäre das Zimmer aufgeräumt und die Aufgaben für die Schule fertig, würde die Mutter sofort aufhören zu nerven. Soweit denkt Hänsel, der in den letzten Wochen eher ein Rumpelstilzchen ist, jedoch nicht.

Gretel räumt währenddessen das Wohnzimmer auf und schimpft nebenbei die aufgebrachte Mutter, die sich wieder uneingecremt auf dem Balkon sonnt.

Sobald der Timer für das prä-pubertäre Chaos abgelaufen ist, werden die Mädels ihre Sachen packen und Gretel darf Inline skaten üben. Hänsel darf mitkommen, sofern er seine Aufgabe erledigt hat. Anderenfalls darf er selbst seine Spielsachen aus seinem Zimmer entfernen und sich freuen, dabei seine Ruhe zu haben. Danach stehen sämtliche Aufgaben für die Schule an, die er bislang nicht gemacht hat. Es wird ein langer Tag für den leidenden Hänsel. Es wird ein langer Tag für die ebenso leidende Mutter. Gretel stellt Bier kalt.

Dann die Hiobsbotschaft: Gretels Skates sind gar nicht da. Traurig sendet sie eine Sprachnachricht, mit der Bitte, die Inliner samt Schützern doch zurückzubringen. Leider wird sie lange auf eine Reaktion warten müssen. Bis dahin wird eben geradelt.

Gesagt, getan. Die Mädels fahren allein, der Herr des Hauses hat überraschenderweise auch auf Radfahren (oder liegt es vielleicht doch an der Mutter?) keine Lust. Ist OK, kann er ja endlich seiner Wäsche-Mission nachgehen. Das Zimmer hat die Mutter inzwischen aufgegeben. Er fühlt sich wohl im Dreck, soll er eben. Stattdessen darf er andere Dinge erledigen. Armer Hänsel muss die Wäsche zusammenlegen, die er voller Rage vormittags runtergeschmissen hat.

Die Mädels radeln los. Erst an den See, Gretel möchte gerne Fotos machen. Die Mini-Version ihrer Mutter hat ein gutes Auge für Motive, allerdings ist sie, anders als ihre Mutter, auch liebend gerne vor der Kamera.

Viele Fotos und wenige Zeit später radeln die beiden weiter. Es geht weiter über Feld und Wiesen, bis sie ein kleines Waldstück erreichen. Dort erkundet Gretel ein aus dicken Baumästen gebautes Tipi, in das sie am liebsten einziehen würde. Darf sie aber nicht. Ein wenig schmollend, aber vom Entdeckungsdrang getrieben, informiert sie ihre Mutter, dass sie jetzt nach da vorne geht, versichert ihr aber gleichzeitig, dass sie auf sich aufpassen wird. Gutes Mädchen.

Nach insgesamt drei Stunden kommen die beiden hungrig nach Hause. Gretel freut sich auf Hänsel und würde ihm nachmittags so gerne das Tipi zeigen. Hänsel aber hat die drei Stunden genutzt, um seine Mutter von Null auf Hundert mit nur einer Antwort zu bringen: „Ich habe die ganze Zeit Wäsche zusammengelegt, wie du gesagt hast.“
Erinnerung: Er hatte drei Stunden Zeit. Ergebnis: Er hat acht Teile geschafft.
Erinnerung: Innerhalb von drei Stunden.

Au revoir, gute Laune. Adieu, gemeinsames Radeln später. Arrivederci, wir zeigen Hänsel, was Gretel entdeckt hat. Byebye, entspannte Feiertage. Bon voyage, Familienzeit. Hello, Drama! Welcome, Tobsuchtsanfälle!

An ihren Sommerteint denkend verzieht sich die Mutter mitsamt ihrer Wut auf ihren eingesessenen Platz auf dem Balkon. Fürsorglich fragt Gretel, ob sie ihr ein Bier holen darf. Später, jetzt ist erstmal Kaffeezeit.

Gretel wünscht sich indes einen Kinderpunsch. Ihre Uhren tickten schon immer ein wenig anders, was sie in den letzten Tagen gerne unter Beweis gestellt hat. Im Sommeroutfit durch den Wald radelnd sang sie den einen Tag lauthals „Last Christmas“, den darauffolgenden informierte sie alle Menschen, die ihren Weg kreuzten, dass es sechsunddreißig Grad hätte und noch heißer werden würde, sie aber keinen Ventilator besitzt.

Bei Kaffee und Kinderpunsch sinnieren die Mädels darüber, warum Gretels Haare nicht leuchten, wenn sie singt. Bei Rapunzel tun sie das schließlich auch. Dass sie Gretel und nicht Rapunzel ist, lässt das Mädchen natürlich nicht gelten.

Hänsel nutzt die Gunst der Stunde und legt seine Arbeit, nach inzwischen dreizehn Teilen, nieder.

Der Auftrag lautet: Adoptionspapiere drucken.


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