Abends beendet die Mutter ein Projekt und ist entspannt. Kurzzeitig.

Sie geht in Richtung der Kinderzimmer, um Hänsel und Gretel nochmals gute Nacht zu sagen.

Gretel liegt schlafend in ihrem Bett. Die Mutter deckt ihr kleines Mädchen zu und schaut ins Jungenzimmer.

Leer. Aber im Badezimmer brennt Licht. Sie wartet.

Herauskommt ein Junge, der auf der einen Seite aussieht wie Hänsel, auf der anderen wie ein Model aus einem do-not-cut-your–hair-unless-youre-an-expert-youtube-Video.

Er hat sich soeben die Haare, die er sich eigentlich lang wachsen lassen wollte, ratzekahl geschnitten. Mit seiner Bastelschere. Kurz vor Mitternacht. Nachdem er die Nachfragen der Mutter, ob ein Friseurtermin notwendig wäre, wochenlang verneint hat.

Sie weiß nicht, ob sie ihm eine Watsche geben oder ihn einfach nur auslachen soll. Die Entscheidung fällt auf „Du bist doch total Banane“-sagend den Kopf zu schütteln.

In ihrem Bett liegend schaltet sie den Fernseher ein. Plötzlich erscheint ihr Sheldon als ein erstrebenswerter Charakter.

Verzweifelt überlegt die Mutter, was sie in den nächsten Jahren noch alles mit dem Jungen mitmachen werden muss.

Vielleicht kann sie ja doch noch in den Urlaub fahren, für ein paar Jahre, weit weg. Ohne Rückticket.

Kurz nach dem ersten Weckerklingeln steht Gretel in der Tür. Die beiden kuscheln, als auch Hänsel zu ihnen kommt. Die Mutter macht das Licht an. Sie traut ihren Augen nicht! Da hat der Junge sich doch tatsächlich nachts noch die andere Seite geschnitten!

Es ist nicht so, als würde es nicht gut aussehen – vom Prinzip her, wenn es ein Profi mit einer ordentlichen Schere geschnitten worden wäre.

Es sind viel mehr die Gedankengänge des Kindes, die die Mutter verzweifeln lassen. Sie ist sich sicher: Das ist erst der Anfang. Und das macht ihr Angst.

Er jammert, dass er immer noch nicht in die Schule könne. Muss er aber.

Die Mutter versucht, bei einem ausgiebigen Spaziergang im Nebel des Morgens den Kopf frei zu bekommen.

Stattdessen aber stellt sie fest, wie laut alles um sie herum ist.
Am See, mutterseelenallein, kann sie ihr Hörbuch wunderbar hören. Sobald sie aber wieder Richtung Stadt kommt, wird es akustisch immer schwieriger zu verstehen.

Als der Sprecher dann auch noch über einige ihrer liebsten Urlaubsziele spricht, packt sie die schlechte Laune endgültig. Sie möchte weg. Weg von dem ganzen Mist.

Die schlechte Laune bekommt Hänsel nach der Schule mit. Was auch immer er sagt, seine Mutter reagiert genervt.

Später wird er mit seiner Schwester gemeinsam endlich aufräumen. Tun sie das nicht, fliegt alles raus, lautet die Ansage. Die Mutter hat auf das Theater keine Lust mehr. Und auf dumme Ideen auch nicht. Mindestens ein Kind versteht, dass die Mutter es ernst meint.

Sie selbst bringt Wohnzimmer, Flur und die Badezimmer in Ordnung, bevor sie sich einen Sekt öffnet.


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