Die Mutter wacht kurz vor ihrer an sie gekuschelten Tochter auf. Draußen scheint die Sonne, alles ist ruhig. Noch. Das Wetter soll sich heute noch ändern und sobald die Kinder wach sind, wird es auch mit der Ruhe vorbei sein.

Und schon blinzeln verschlafene große Augen die Mutter an. Dazu ein Lächeln, gefolgt von einem Küsschen. Ach, ist das schön.

Die beiden unterhalten sich eine Weile. Beendet wird das Gespräch von Gretel, die jetzt gerne einen Kaffee machen möchte. Darf sie.

Hochkonzentriert, aber singend kommt das Mädchen aus der Küche. „Ich muss nicht zur Schule, ich muss nicht zur Schule, ich werde den ganzen Tag lang meiner Mama auf den Sack gehen, fünf Wochen lang, fünf Wochen lang“.

Das ruft auch Hänsel auf den Plan. Die Mutter bekommt den Ansatz eines Lächelns, dazu einen Luftkuss und ein „Guten Morgen“, bevor Gretel ihn niederkuschelt und beide im Prä-Pubertier-Zimmer verschwinden. Mutter und Kaffee bleiben überrascht zurück.

Fünf Wochen lang, überlegt sie. Sie ist schon ein wenig stolz drauf, dass sie sich seit heute in der fünften Woche befinden und es noch keine Toten gibt. Abgesehen natürlich von den Schokohasen, deren kaltblütiger Mord wohl ungesühnt bleiben wird, da der, oder wahrscheinlich eher die, Täter nicht überführt werden konnten.

Wenig später beschließen die drei, mehr oder weniger freiwillig, das noch sonnige Wetter zu nutzen. Das vor kurzem im Wald entdeckte Tipi möchte Gretel nun endlich ihrem Bruder zeigen.

Als sie so radeln, fahren sie an einem Vater-Sohn-Gespann vorbei. Der kleine Junge freut sich, dass er morgen Geburtstag hat. Wie ihre meistens-beste-Freundin, wie Gretel feststellt. Das fremde Kind freut sich weiter, dass sie jetzt zur Oma fahren. Entsetzt blickt Gretel zu ihrer Mutter: „Mami, wissen die denn nicht, dass Corona überall sein kann und das für die Oma vielleicht gefährlich ist?“ So ein kleiner, süßer Denunziant.

Sie radeln weiter zum See. Dort brauchen die Kinder dringend eine Pause. Trinken wird ausgepackt und auch die mitgebrachten Weintrauben fallen nach nur dreieinhalb Kilometern dem kindlichen Appetit zum Opfer. Bevor sie sich auf die Bank setzen, macht Gretel auch hier den Corona-Test. Nach ihrem Handauflegen steht fest, die Bank ist gesund.

Ausgelassen spielen die Kinder am Wasser. Die Mutter wartet darauf, welches der Kinder als erstes hineinfällt.

Erst einmal entdeckt Gretel jedoch einen schlafenden Biber in seinem Bau und ist ganz fasziniert. Das Tier zeigt sich wenig beeindruckt, es schläft einfach weiter. Gretel findet das gar nicht gut. Sie möchte den Biber viel lieber von allen Seiten betrachten und mit ihm kuscheln. Darf sie aber nicht. Findet sie doof.

Auch später im Wald sind Hänsel und Gretel voll in ihrem Element. Sie suchen Äste, um das Tipi weiter zu bauen. Die Mutter geht unterdessen ein paar Runden spazieren. Besorgt versichert sich Gretel, ob die Mutter auch wirklich zurückkommen wird. Wird sie. Sagt sie.

Im Wald wird es immer voller. Zwei ehemalige Teamkollegen von Hänsel stürmen das Tipi, also wird die Bauaktivität von Hänsel und Gretel auf den benachbarten Bau verlegt. Während die Kinder getrennt vor sich hin bauen, tun auch die Eltern, was sie am besten können: in der Sonne sitzen.

Vom angekündigten Gewitter ist nichts mehr zu sehen. Schlecht für die Mutter, die langsam Hunger bekommt und das Wetter gerne als Grund für die Rückfahrt genutzt hätte.

Hänsel hat seiner Mutter freudestrahlend versprochen, dass er ihr einen Salat machen wird. Gretel möchte Nudeln. Dem Jungen ist es egal, er macht, was ihm aufgetragen wird. Vor allem aber freut er sich, dass er bald das erste Mal nach Rezept kochen darf. Eine Freundin der Mutter hat morgens zwei Rezepte geschickt, von denen er eines nach dem nächsten Einkauf unbedingt ausprobieren möchte. Er hat sich auch schon bei seiner Mutter erkundigt, ob er besser Handwerker, was er schon immer als Plan B neben dem Bayern-Star hatte, oder Koch werden soll. Die Entscheidung liegt bei ihm, erklärt sie ihm.

Die Mutter ist sehr stolz auf ihren Sohn. Sie liebt seinen Ehrgeiz, wenn ihn etwas interessiert. Schule ist nicht seins, das wird er von ihr geerbt haben. Wenn er aber Freude an etwas hat, dann gibt er alles dafür. Auch das hat er seiner Mutter gleich. Vielleicht geraten sie deswegen so häufig aneinander.

Auf dem Heimweg kommt bei Hänsel wieder die schlechte Laune durch. Dabei fiel keines der bekannten Unwörter.

Gretel hingegen ist in Plauderlaune. Von der Uroma und wie sie so war, was sie alles erlebt hat, ob sie Gretel einmal kennengelernt hat, warum sie nicht mehr lebt, ob sie sie mal besuchen fahren können, dort wo sie begraben ist und wie sich Gretel das bunte Glitzerkleid vorstellt, dass die Uroma mit dem hübschen Namen oben im Himmel als Schutzengel der drei trägt über warum auch Katzen kotzen können bis hin zu ihrer meistens-besten-Freundin waren viele Themen dabei.

„Ich möchte mal wieder mit meiner meistens-besten-Freundin spielen, Mama. Ich vermisse sie.“ – „Ich weiß, mein Schatz. Aber im Moment dürft ihr nicht miteinander spielen. Bald wieder, und dann sehr gerne.“ – „Das weiß ich, Mami. Ich meinte auch, wenn der Corona eingesammelt ist. Wie groß ist der Corona? Hast du eigentlich einen Mundschutz?“ So ein kleiner Kopf, so viele Gedanken.

Die drei sind daheim. Die Mutter hat immer noch Hunger, Hänsel plötzlich keine Lust mehr zu kochen. Genervt steht er nudelkochend in der Küche. Der Auftrag seiner Mutter, den Salat ebenfalls zuzubereiten, löst den schon lang vermissten Wutanfall aus. Zu schön wäre es gewesen, einen Tag ohne einen solchen Anfall erleben zu dürfen.

Während Hänsel kocht, das Essen und innerlich, isst Gretel munter ihre Osterleckereien. Die Mutter möchte sich mit ihrem Bier nach draußen verziehen. Darf sie aber nicht, da die Situation eskaliert. Hänsel brüllt, er wollte niemals einen Salat machen, das soll seine doofe Schwester tun. Extra für sie hat er die Lebensmittel schon mal vorsorglich auf dem Fußboden des Raumes, der laut Grundriss wohl die Küche sein muss, verteilt. Der Mutter wird es zu blöd. Sie schickt ihn ins Bett. Er ist dankbar, was er deutlich mit lautem Knallen aller drei Türen auf seinem Weg dorthin unter Beweis stellt. Im Zimmer angekommen, schmeißt er sich aufs Bett und es dringen Worte aus dem Prä-Pubertier-Zimmer, die nicht für kindliche Ohren bestimmt sind. Hänsel wird plötzlich klar, dass er schlafen und nicht am Handy spielen oder Fernsehen soll. Das bessert weder seine Laune noch seine Ausdrucksweise.

Gretel teilt mit, von der Schokolade noch nicht satt zu sein. Praktischerweise hat Hänsel ein knappes Kilo Nudeln gemacht. Hungern wird heute keiner. Und die nächsten Tage auch nicht.

Zum Glück ist der Biervorrat ebenfalls ausreichend. Die Mutter bleibt draußen sitzen, während Gretel im Wohnzimmer einen Film schauen darf.

In Gedanken geht die Mutter die Optionen durch, wo sie die nächsten Jahre verbringen könnte.

Notiz an ihr nächstes Leben: Bleibe kinderlos.


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