Es ist noch nicht einmal sieben Uhr, als Gretel an diesem verregnetem Feiertagsmorgen zu ihrer Mutter ins Bett gekuschelt kommt. Das Mädchen schläft glücklich weiter, die Mutter ist müde wach. Wie so oft kann sie auch heute nicht einschlafen.

Die Sonne offenbar auch nicht. Immer mal wieder kämpft sie sich durch die Wolken hindurch. Heute soll sich bewegt werden. Zumindest ist die Mutter dieser Ansicht. Die Kinder schlafen selig ihren Benjamin-Blümchen-Rausch des Vorabends aus. Wenn es auch andere Möglichkeiten gäbe, da sie die Fernbedienung vom Kinderzimmer-TV irgendwo im Chaos des jugendlichen Frusts verloren haben, müssen sie abends nun wieder Geschichten hören. Vielleicht geschieht eines Tages noch ein Wunder und die beiden überkommt ein Gefühl der Ordentlichkeit. Die Mutter rechnet bei Hänsel jedoch nicht vor 2033 damit, bei Gretel hofft sie auf 2024.

Sie kuschelt sich kurz an das Mädchen heran. Ganz ohne Decke schläft die kleine neben ihr. Während sie sie zudeckt, gibt sie ihr ein Küsschen, streicht ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht und flüstert ihr leise ins Ohr, dass sie sie liebt. Ein müdes „ich liebe dich auch“ kommt prompt, mitsamt einem süßen Lächeln, als Antwort. Nur einen Augenblick später schläft die kleine wieder tief und fest.

Aus dem Jugendzimmer ist nichts zu hören. Der Junge war gestern lange wach und schläft nun den Schlaf der Teenies. Obwohl er noch keiner ist, beherrscht er diese Kunst in Vollendung.

Die Mutter könnte die Ruhe nutzen, um einen Auftrag zu erledigen, den sie bis Ende dieser Woche zugesichert hat. Zumal die Auftraggeberin sie weiterempfohlen hat und spätestens am Montag eine neue Anfrage bei ihr eingehen wird. Andere nutzen die ruhige Zeit momentan also tatsächlich, um ihre Projekte nicht nur anzugehen, sondern schließen sie sogar ab. Die Mutter stattdessen liegt im Bett, ist müde und sogar zum Kaffee machen zu faul.

Mit der großen Autoren-Karriere wird das so jedenfalls nichts. Sie träumt sich in das Leben, das sie so gerne führen würde. Die Bilder sind erschreckend detailliert. Die vom zugehörigen Kontoauszug jedoch ebenso, weswegen sie die Träumerei auf später verschiebt. Eines Tages, einen schönen Tages, wird sie in diesem Strandhaus in Skandinavien oder Irland sitzen und einfach nur schreiben. Da glaubt sie ganz fest dran.

Gretel wacht auf. „Hat man dich ausschlafen lassen, Mami?“ Da macht sich das Vorschulkind als allererstes an diesem neuen Tag Gedanken um den Schlaf ihrer Mutter!

Nur eineinhalb Stunden später, es ist fast Mittag, kommt ein gut gelaunter Hänsel ins Bett der Mutter gesprungen. Nach einer Küsschen-Kuschel-Attacke bittet er die Mutter, ihr einen Kaffee machen zu dürfen. Gute Erziehung ist so viel wert.

Die Mutter beruft eine Familienversammlung ein. Sie verkündet die Wanderpläne für heute und beauftragt Hänsel mit der Vorbereitung der Brotzeit. Begeisterung bricht aus. Die Mutter ist verwirrt. Kinder sind ganz offensichtlich kaputt.

Sind sie nicht. Kurz bevor es losgeht, zickt Hänsel rum. Alles wieder gut.

Während sie so wandern, kommen ihnen zahlreiche Radler entgegen. Nett wie sie sind, grüßen sie freundlich und machen Platz. Einer der Radler fährt ihnen nun schon zum zweiten Mal entgegen. Gretel möchte von ihrer Mutter wissen, warum das so ist. Natürlich kann die Mutter ihr keine Antwort geben. Das Mädchen ist unzufrieden. Wenige Minuten später treffen sie erneut auf den gleichen Sportler. Neugierig ruft Gretel ihm hinterher, ob er sich verfahren hätte und erhält ein lachendes „im Moment schon“ als Antwort. Die Kleine ist glücklich.

Hänsel nicht. Er liefert sich ein Schimpfwort-Battle mit seiner Schwester. Mit einem „du Aff“ möchte die Mutter den Wettkampf beenden. Klappt nicht. Er antwortet mit „du Äffin“ und muss lachen, als seine Schwester die Aussage der Mutter, sie sei keine Äffin, sondern eine Efron, hinterfragt:
Als das Mädchen kaum sprechen konnte, sah sie ein Foto von Zac Efron. Bgeistert rief das Zwergenmädchen damals inbrünstig, dass sie genau diesen Mann haben wolle. Daran musste Hänsel denken. Gretel möchte Zac sehen. Die Mutter verspricht, ihr das Bild von damals zuhause zu zeigen.

Sie wandern weiter. Langsam bessert sich Hänsels Laune. Noch wissen die Kinder nicht, dass sie noch kein Drittel der anvisierten Kilometer für heute gegangen sind. Noch weiß die Mutter nicht, dass alles ganz anders kommen wird.

Innerhalb von Sekunden schlägt die Stimmung um. Hänsel ist sauer. Er hat die Walkingstöcke der Mutter, die die Kinder unbedingt mitnehmen wollten, kaputt gemacht. Die Mutter tut kund, dass sie das doof findet. Selbstverständlich darf er da sauer sein.

Sie wandern weiter. Bis zu dem Ort, an dem die Drogenkarriere der Mutter vor vielen Jahren begann. Sie selbst hatte es schon längst vergessen. Ihre Freundin, mit der sie damals an diesem idyllischen Platz ihre erste (Schachtel) Zigaretten geraucht hatte, erinnerte sie erst vor wenigen Tagen daran. Die Mutter hat wenig Geheimnisse vor ihren Kindern. Dass sie damals nur wenig älter war als Hänsel heute, wird jedoch eines bleiben.

Die Kinder spielen am Wasser. Grade sagt die Mutter noch, dass sie demjenigen, der hineinfällt, erst dann hilft, wenn sie fertig ist mit lachen. Hänsel turnt auf den Baumstämmen über dem Wasser. In dem Moment, als die Mutter die Videokamera starten möchte, hört sich ein Platschen.

Während der Mann, der mit seinem Kleinkind neben der Mutter steht, sich erschrickt, erstickt die Mutter fast vor Lachen. Gretel, die an einer anderen Stelle am Wasser spielt, springt augenblicklich ein großes Stück zurück.

Hänsel, bis zum Bauchnabel im Wasser stehend, stellt fest, dass er nass ist. Er ist so ein kluger Junge. Als er sich aus dem Matschwasser herausgekämpft hat, bekommt auch die Mutter langsam wieder Luft. Die kleine Intelligenzbestie stellt fest, dass es kalt ist. Blöd, dass er nun mit der nassen Jogginghose nach Hause laufen muss.

Die Fitnessuhr der Mutter zeigt an, dass sie bis hierher fast zwei Stunden benötigt haben. Sie hofft inständig, dass der Spaß keine Blasenentzündung nach sich zieht.

Sie machen sich auf den Heimweg. Zumindest ist das der Plan. Denn obwohl Hänsel friert, möchte er weder die Jacke seiner Mutter anziehen, noch möchte er sich beeilen. Die Mutter ist genervt, die Kinder machen Blödsinn. Wenn sie anfinge zu joggen, könnte sie die beiden in zwei Kilometern abgehängt haben.

Sie entschließt sich, die beiden doch mitzunehmen. Während Gretel weiterhin trödelt, stellt Hänsel, klug wie er ist, erneut fest, dass es kalt ist. Inzwischen in Chantal umbenannt, deklariert er seine Situation theatralisch als Tragödie der deutschen Geschichte. Ein ganz schwarzer Tag.

Die Mutter kündigt die Mutterschaft fristlos. Ihre Kündigung wird nicht akzeptiert. Hänsel informiert sie, dass sie für die nächsten hundert Jahre nicht aus dem Vertrag kommen wird. Die Mutter ist traurig, versucht es ein weiteres Mal. Chancenlos. Das neue Urteil lautet tausend Jahre.

Als sie den Wald verlassen, regnet es. Im Gegensatz zu Hänsel finden Mutter und Gretel die Aufforderung, schnell nach Hause zu gehen, da sie ansonsten nass werden, ziemlich witzig. Sie lachen. Hänsel nicht. Mutter und Tochter werden nass. Hänsel nicht (mehr als vorher).





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